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WAS
IST SINGEN
Sie
kennen das sicher: Sie spazieren in der engen Gasse eines südlichen
Landes und plötzlich ertönt aus einem offenen Fenster eine Stimme. Sie
unterbrechen Ihren Gang um den Gesang anzuhören. Sie verstehen die Wörter
nicht und doch sind sie zutiefst gerührt. Ist es eine Oma, die das Kind
wiegt? Ein Bild voll Zärtlichkeit wird Ihnen geschenkt, sie fühlen Nähe
und Vertrauen. Die Stimme geht ohne Umwege vom Herzen zum Herzen. Singen
ist ein Urbedürfnis.
Das
Baby, das bereits als Ungeborenes Musik wahrnehmen kann, singt bevor es
sprechen kann. Es lallt, gibt verschiedene Töne von sich. Eine natürliche
Körperfunktion kommt in Bewegung. Der/die Erwachsene kann durch
Singen Gefühle ausdrücken, für die das Wort nicht reicht.
Allerdings nur, wenn die Gesangslust nicht – meistens in der Kindheit
– verschüttet wird. In unserer Kultur wird leider aus dieser Funktion
eine Leistung gemacht, die Funktion wird benotet: "sie singt
richtig, sie singt falsch." Oder:
"pfui, du darfst mit den
anderen nicht singen!" /
"mach den Mund zu!" /
"in unserer
Familie singt niemand." (Vertreibung, Verbot).
Schon
ist es geschehen. Das Kind beginnt sich für seine Stimme zu genieren.
Es presst die Lippen, verspannt den Kiefer etc. Es verbietet seiner
Stimme zu klingen. Dieser Schaden beeinträchtigt sein Singen und auch
sein Sprechen lebenslang. Es geht nicht darum, ob man Sänger werden
will/kann – oder nicht, ob man "richtig" singt, ob man ein
Publikum hat... Das Singen ermöglicht das Ausschütten von
Aggressionen, Ängsten, Leidenschaften; es ist wie eine Reinigung der
Seele, eine Quelle des Glücks. Stimme mit Musik zu verbinden bietet uns
farbigere Horizonte, schafft einen Ausgleich von Körper und Seele.
Früher
haben die Menschen öfters zusammen gesungen, sie haben damit – besonders
bei feierlichen Anlässen – ihren gemeinsamen Gefühlen Ausdruck
gegeben. Aber leider ist im Westeuropa diese soziale Aktivität außer
Mode gekommen und viele wissen nicht, wo sie ihre starke Sehnsucht
danach stillen können.
Dass
diese Sehnsucht in den Menschen lebt – wenn auch oft versteckt –
wird wieder präsent, wenn in meinen Workshops nach gewissen Übungen
die Stimme, die jahrelang gefangen war, endlich erklingt. Öfters muss
der Teilnehmer, die Teilnehmerin weinen!
Abgesehen
von seelischer Befreiung bringt die Pflege des Gesangs auch Vorteile für
die Sprechstimme. Singen fordert nämlich einen großen melodischen
Bogen, so dass der Stimmapparat an Höhen und Tiefen bereichert wird.
Die Sprechstimme wird melodiöser, verliert ihre Monotonie. Und weil man
sich an die Melodie und den Rhythmus so wie an die Länge der Pausen
anpassen muss, lernt man die Disziplin des Atems und die Gymnastik des
Zwerchfells. (x)
Wer
sich für seine Gesundheit verantwortlich fühlt, sollte nicht
vergessen, dass auch der Gesang einen Teil deren Pflege darstellen kann
(Nervosität, Asthma, Depression etc.).
Zum
Schluss den Satz einer Schülerin, die mir auf meine Frage warum sie
singen lernen will, antwortet: "Ich bin das meiner Stimme
schuldig!"
©
Marie
Thérèse Escribano (Wien, Februar 04)
(x)
Forscher der Frankfurter
Universität haben bei einer Studie mit 40 Sängern eines Frankfurter
Laienchors herausgefunden, dass Singen de Abwehrkräfte stärkt und die
Stimmung hebt. Die Art der Musik die man singt, scheint unerheblich zu
sein. Studienleiter Dr. Bastian deutet diese Ergebnisse so, dass Singen
physiologische Vorgänge des vegetativen Nervensystems beeinflussen kann.
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